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GABRIELE PETRICEK

 

 

Zimmerfluchten
Erzählungen
Literaturedition Niederösterreich, St. Pölten 2005, ca. 120 Seiten
ISBN 3-901117-76-8

Sieben Erzählungen, die alle den Untertitel Zimmerflucht tragen, unterschieden jeweils durch eine römische Ordnungszahl.
Zimmerflucht ist als Metapher für Veränderung, Metamorphose zu verstehen. Öffnung, Übertritt, Schwelle, Strand, Rhythmus, Wiederholung, enden, beginnen, Licht, Architektur, Türen, Auflösung sind die Stichworte für diese Erzählungen, in denen Einzelgänger betrachtet werden.

Textprobe aus:
Das Eiszimmer (Zimmerflucht IV)
Auf einem Stapel alter Zeitschriften ein Abspielgerät. Ein Zimmer, fast leer, und voll mit Büchern. Klein. Und kalt. In der Nische unterhalb des Fensters ein knappes rotes Leuchten. Die Kontrollampe des Abspielgeräts. Den Fensterscheiben eine Eisschicht aufgefirnt. Von schwächlicher Jännersonne zum Funkeln gereizt, treiben die Eisblumen Kristallblüten in Spektralfarben, deren unwirkliche Schönheit der Mann im Bett negieren möchte. Er dreht den Kopf zur Wand. Sein Gesicht hat einen weißen, mit dunklen Haaren durchsetzten Vollbart, der die Lippen verdeckt. Sein Atem schiebt sich zwischen den borstigen Haaren hervor, schreibt Schwaden in die Zimmerkälte und rasselt wie eine Ankerkette beim Hochziehen. Hannibal Norden regt sich. Unter dem Rand der üppigen Daunendecke kommen knotige Finger zum Vorschein, die über den Holzboden streifen, etwas ergreifen, sich damit in den Tuchentbau zurückziehen. In einem Schwall von Ergriffenheit drückt Norden das Tastenkästchen an die Brust. Dennoch wartet er. Befürchtet das Doppelhören. Sein plötzlich wiedergekehrtes verzweigtes Hören. Als könne ein Ton, nachdem er gefallen, sich nicht entschließen, höher oder tiefer zu lauten. Diese Töne eines ganz gewissen Musikstückes, die sich in ihrem durch lange Pausen voneinander getrennten Klang unmittelbar in zwei Fremdtöne verästeln und nachklingen in die nächste Pause. Eine Tonunsicherheit, die nicht da ist, wenn er die Töne denkt, bevor sie die Abstände des stillen Zimmers füllen. Das Doppelhören aber ist, als würde ein und derselbe Ton aus verschieden gestimmten Instrumenten kommen. Oder in jedem Ohr anders ankommen, nicht vorhersagbar, welches Ohr den nächsten Ton richtig hören wird. Norden versucht das Musikstück vorauszuhören. So, wie er es noch vor einigen Tagen hören konnte, als Edita gekommen war und die CD gebracht hatte. Sie hielt seine Hand, als sie die Musik gemeinsam hörten. Konzentriert lauscht Norden dem Zimmer. Will im Kopf hin und her drehen entdecken, ob das linke die Stille am rechten Ohr anderstönig erfasse, kann es nicht entscheiden und hält inne. Dann bewegt er sich, hört die Tuchent. Die knackt und knirscht dumpf im Lufthalten der Federn. Norden bewegt sich mehr. Es wird Zeit für Edita.
Die Alte schickt die Enkelin herauf. Seit Jahren. Norden kann sich nicht erinnern, wann er Editas Großmutter zuletzt gesehen hat. Das Essen wie immer. Das Essen ist gleichgeblieben. Kein Unterschied. Keine Liebe. Keine Bösartigkeit. Einfach, ordentlich. Besser als Anstaltessen. Norden denkt, dass die Alte noch lebt. Wiewohl sie ihren Kopf nicht mehr in sein Zimmer gesteckt hat, seitdem Edita die Aufgaben wahrnimmt. Das Kind hat alles machen müssen. Bis auf die ersten zwei, drei Jahre, in denen die Alte kam, weil Edita noch zu klein war. Ihre Mutter sei gestorben, und sie werde das Essen ab nun bringen und sonst alles machen, was seine Pflege beträfe, sagte sie, als sie an einem falschen Frühlingstag mit dem Tablett erschien. Danach schwieg sie, war nie zu verleiten, ihre Familie zu erwähnen. An diesem elend kalten Tag mit dem herausfordernden Sonnenlicht war sie mit besockten Füßen, weißen Beinen und einem hochgeschlossenen graugeblümten Baumwollkleidchen, das ihre dünnen Kinderarme bis an die Ellenbogen freiließ, zur Tür hereingekommen. Sie werde Lungenentzündung bekommen, wenn sie nicht mehr anziehe, hatte er gesagt. Das würde ihr und niemandem sonst etwas ausmachen, hatte sie geantwortet. Ihr Zusatz - im übrigen sei ihr nicht kalt, sie spüre auch sonst nichts – hatte ihr ein überlegenes Lächeln ins Gesicht geworfen. In diesem Nichtsspüren, von dem Edita sprach, hatte Norden sich mit ihr verbunden. Seine Gefühllosigkeit war physischer Art - ist es noch.
Vielleicht gerade deswegen, war Edita an einem trüben Morgen einige Wochen später mit einem Stück Schokoladentorte gekommen. Hatte das Tablett mit Nordens Frühstück und der Torte, in der eine Kerze brennend stak, feierlich vor ihrem Oberkörper gehalten. Hatte, dicht an sein Bett getreten, ernsthaft gesagt: Heute ist mein Geburtstag. Ich bin erwachsen und bleibe es. Sie war acht geworden. Ging zur Schule, sprach aber nie darüber. Ihre Zeugnisse jedoch zeigte sie ihm. Sie hatte gute Noten, manchmal mittelmäßige, nie hervorragende. Ihm ihre Schulnoten zu zeigen, hielt sie für wichtig. Das brachte Balance in ihr Leben. Festigkeit. Sie brauchte ihn als Zeugen ihrer Fortschritte als Heranwachsende. Er zollte ihren mit Verlegenheit und Stursinn vorgetragenen Wünschen eines Schulkinddaseins Respekt, lobte sie, tadelte wenig, bot Hilfe an, an, die sie mit Kopfschütteln ablehnte, im nächsten Zeugnis war die beanstandete Beurteilung verbessert. Sie lachten, nachdem sie die eine Kerze auf dem Schokoladentortenstück gemeinsam ausgeblasen hatten.

 

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